Zwangsstörungen
Zwangsstörungen sind offenbar häufiger als früher angenommen und sie werden auch in der Öffentlichkeit zunehmend diskutiert. Dabei sind die Beschreibungen in den Massenmedien oft unpräzise. Die Bezeichnung „Zwang“ wird auch auf psychische Probleme wie Essen, Trinken oder Glücksspiel bezogen, was man als unzutreffend ansehen muß. Ein korrektes Verständnis der Störung ist für eine zielführende Behandlung unverzichtbar.
In vielen Sprachen werden Zwangsgedanken (Obsessions) und Zwangshandlungen (Compulsions) schon begrifflich unterschieden; in der deutschen Sprache müssen wir beide Komponenten umschreiben.
Was sind Zwangsgedanken?
Darunter versteht man Ideen, Gedanken, Bilder oder Impulse, die vom Patienten als unsinnig erlebt, von ihm aber nicht beeinflußt werden können. Der Patient erlebt den Gedanken als unangenehm; sie lösen bei ihm Gefühle der Angst, Schuld und Unruhe aus. Ein häufig erlebter Gedanke sind Befürchtungen, daß verschiedene Objekte oder Personen „verseucht“, beschmutzt oder verunreinigt sein könnten. Der Patient möchte sich daraufhin unbedingt waschen oder reinigen. Andere Zwänge beziehen sich auf die Angst, ein Fenster, eine Tür etc. könnte nicht geschlossen sein, daß etwas übersehen oder eine Handlung nicht korrekt durchgeführt worden ist. Andere Gedankeninhalte betreffen Unfälle oder schlimme zukünftige Ereignisse; die Person versucht diese durch spezielle zwanghafte Wiederholungen von Gedanken oder Handlungen zu verhindern. Auch Gedanken, etwas Schreckliches zu tun, jemanden zu verletzen, sich zu versündigen etc. sind Inhalte, über die viele Patienten klagen und durch die sie beunruhigt werden.
Alle Menschen machen sich in gewisser Weise Sorgen um Krankheiten (Krebs, Aids . . .), um Gefahren durch die Umwelt oder um alltägliche Ereignisse (Autofahren, elektrische Geräte . . .). Die meisten Menschen erleben auch fallweise „verrückte“ Gedanken und Bilder, ohne daß wir dies als Zwangsstörung bezeichnen würden. Die von einem Zwangspatienten erlebten Gedanken sind auch außerhalb jeder Relation, sie sind von höchst unangenehmen Gefühlen der Angst und Unruhe begleitet und sie schränken den normalen Lebensvollzug des Patienten in höchstem Maße ein.
Was sind Zwangshandlungen?
Zwangshandlungen sind zumeist Rituale, die üblicherweise beobachtbar ablaufen; die Rituale werden dabei in starrer, regelhafter Form durchgeführt. Der Patient selbst ist sich der Sinnlosigkeit seines Rituals im Prinzip bewußt, kann sich dagegen aber kaum wehren. In vielen Fällen dienen die Rituale dazu, die aufdringlichen Zwangsgedanken (Schuld, Schmutz...) zu kontrollieren. Rituale führen zumeist kurzfristig zu einer Reduktion von Angst und Unruhe und werden deshalb immer wieder durchgeführt.
Beispiele:
- Stundenlange Waschrituale, Duschen, Reinigen um sich von vermeintlich verschmutzten Dingen, vor Ansteckung etc. zu befreien.
- Ausgiebigste Kontrolle von Türen, Elektrogeräten etc., um eine befürchtete Katastrophe zu verhindern.
- Ordnung und Kontrolle von Gegenständen (z. B. Küchengeräte, Bilder, Schreibutensilien . . .), bevor alltägliche Aktivitäten in Angriff genommen werden können.
Viele Zwangshandlungen laufen auch gedanklich ab; Beispiele wären Beten, bestimmte Beschwörungsformeln, Denken von bestimmten Zahlen oder von „guten“ Gedanken etc.
Allgemeine Merkmale von Zwängen
Hinsichtlich persönlicher Merkmale von Patienten und ihrer Lebenssituation gibt es große Unterschiede; die Patienten sind auch von ihrem Lebensvollzug sehr verschieden eingeschränkt (z. B. Berufstätigkeit). Patienten verheimlichen ihre Störung zumeist über Jahre hinweg und sie kommen erst dann zu einer Behandlung, wenn ihr Lebensvollzug total beeinträchtigt ist und sie in der Therapie eine Chance auf eine Veränderung wahrnehmen. Ein gemeinsames Merkmal von Zwangspatienten ist darin zu sehen, daß sie sowohl das Risiko einer Katastrophe als auch die damit verbundenen Folgen extrem überschätzen. Viele Patienten haben größte Schwierigkeiten, selbst alltägliche und einfache Entscheidungen zu treffen, sie holen sich Beruhigung und Unterstützung von den Personen ihrer nächsten Umgebung. Viele Personen mit Zwängen sind aber durchaus zu einem „normalen“ Leben im beruflichen, familiären und Freizeitbereich in der Lage.
Verhaltenstherapeutische Behandlung
Das zielführendste psychologische Behandlungsverfahren für Zwangsstörungen bilden spezielle verhaltenstherapeutische Strategien: Konfrontation mit den auslösenden, gefürchteten Situationen und die damit verbundene Reaktionsverhinderung, d. h. die Unterbrechung bisheriger zwanghafter Rituale. Im konkreten Vorgehen erstellen Patient und Therapeut gemeinsam eine Liste von gemiedenen und gefürchteten auslösenden Situationen und der zwanghaften Rituale. Der Patient sollte dabei angeben, in welchem Ausmaß ihn die einzelnen Situationen ängstigen bzw. unangenehm sind. Im Verlaufe der Therapie bearbeitet der Patient die einzelnen Situationen, bis er zunehmend geringere Angst verspürt; dies meint Konfrontation. Üblicherweise erfolgt diese Konfrontation in der Realität und in der natürlichen Umgebung des Patienten. Der Patient sollte unbedingt solange in der Situation ausharren, bis die Angst und Unruhe abnehmen. Während sich der Patient in der problematischen Situation befindet, dürfen keine zwanghaften Rituale (Waschen, Kontrollieren . . .), aber auch keine Beruhigungen gedanklicher Art durchgeführt werden — dies meint Reaktionsverhinderung.
Einzelne Behandlungsprogramme variieren in der Geschwindigkeit des Vorgehens und auch hinsichtlich der Modalität (z. B. Konfrontation mit Gedanken). Entscheidend ist, daß der Patient eine Abnahme seiner Angst erlebt, wenn die üblichen Beruhigungsrituale nicht durchgeführt werden. Konfrontation orientiert sich an den Zielen des Patienten und auch die Reaktionsverhinderung stützt sich ausschließlich auf die Motivation des Patienten, seine Zwänge zu bewältigen.
Insgesamt gibt es viele Therapiestudien zur Effektivität der verhaltenstherapeutischen Behandlung, die eine Effektivität von 65 bis 75% zeigen; die Besserung hält in den meisten Fällen auch Jahre nach der Behandlung noch an. Weniger erfolgreich ist das Verfahren allerdings bei der Behandlung reiner Zwangsgedanken.
Medikamentöse Behandlung
Generell ist festzuhalten, daß es bisher keine Medikamente gibt, die direkt auf die Zwangsproblematik wirken; neuere Studien zeigen, daß eine Medikamentengruppe als durchaus brauchbar anzusehen ist, nämlich Medikamente, die das serotonerge System betreffen (Antidepressiva). Neueren Studien zufolge können rund zwei Drittel aller Patienten als gebessert bezeichnet werden, wobei die Patienten selbst zumeist von einer 30- bis 60%igen Besserung berichten.
Medikamentöse Behandlung von Zwängen erweist sich speziell dann als echte Möglichkeit, wenn die Patienten die Nebenwirkungen tolerieren können (Mundtrockenheit, Zittern . . .). Ein weitgehend ungelöstes Problem ist in diesem Zusammenhang allerdings der Rückfall nach dem Absetzen der Medikation; aus diesem Grunde sollten auch medikamentös behandelte Patienten eine psychologische/verhaltenstherapeutische Intervention in Betracht ziehen.
Weiterführende Literatur
Hoffmann, N. (1990). Wenn Zwänge das Leben einengen. Mannheim: PAL-Verlag.
Was ist Verhaltenstherapie?
Verhaltenstherapie ist ein spezielles Behandlungsverfahren, das sich auf bewährte Forschungsbefunde stützt; Verhaltenstherapie bildet für Patienten eine Hilfestellung, um spezielle Veränderungen in Gang zu setzen und entsprechende Ziele zu erreichen. Solche Ziele betreffen unter anderem:
- Merkmale des Verhaltens, z.B. aktives Sozialverhalten; Reduktion von Alkohol- oder Zigarettenkonsum.
- Art der Gefühle, z.B. Hilfestellungen für eine Person, sich weniger ängstlich oder weniger depressiv zu fühlen.
- Veränderung von Denkmustern, z.B. lernen Probleme zu lösen und zuversichtlichere Gedanken zu entwickeln.
- Art des Umgangs mit körperlichen Beschwerden, z.B. Veränderung des Schmerzerlebens oder des Umgangs mit ärztlichen Verschreibungen.
- Eine Art der Bewältigung, z.B. Hilfestellungen für behinderte Personen oder des Zurechtkommens im Arbeitsbereich.
Verhaltenstherapie und kognitive Therapie beziehen sich in erster Linie auf das Hier und Jetzt, d.h. auf die gegenwärtige Situation und ihre Bedingungen (und nicht so sehr auf die Vergangenheit des Patienten). Wichtige Ansatzpunkte sind die konkreten Verhaltensmuster und Sichtweisen einer Person. Verhaltenstherapeuten arbeiten mit Einzelpersonen, mit Eltern, Kindern, Paaren, Familien und Gruppen.
Zentrale Ziele der Verhaltenstherapie sind die Hilfe bei der Veränderung hinderlicher Denk- und Verhaltensmuster sowie eine Unterstützung beim Erlernen zielführender Strategien; damit sollen Patienten generell mehr Kontrolle über ihr Leben bekommen.
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