Essstörungen

Essen und Trinken sind nicht nur lebensnotwendig, sie spielen außerdem in unserem familiären und gesellschaftlichen Leben eine bedeutende Rolle. Während in früherer Zeit und auch heute noch in einem Großteil der Welt die Nahrungsbeschaffung bzw. die Lebensmittelknappheit das Hauptproblem in Zusammenhang mit Ernährung darstellt, steht bei unserem Überangebot die Auswahl und das Entscheiden, was bzw. wieviel wir essen, im Vordergrund. Da der Mensch eher auf Hungersnöte denn auf Überfluß vorbereitet ist, ergeben sich in den sogenannten Wohlstandsgesellschaften zunehmend mehr Eß- und Gewichtsprobleme, wie Übergewicht, Bulimie und Anorexie.

Übergewicht

Wann ist jemand übergewichtig? Gemäß den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung gilt ein Überschreiten des Broca-Referenzgewichtes

(Körpergewicht in kg) / (Körpergröße in cm —100)

um 20% — 30% (BI = 1,2 bis 1,3) als behandlungswürdig. Es ist jedoch zu berücksichtigen, daß diese Berechnungsart einige mögliche Fehlerquellen (unterschiedlicher Knochenbau, Muskelmasse, besondere Größenverhältnisse etc. führen zu Verfälschungen) beinhaltet und keinen genauen Aufschluß über den Fettanteil des Gewebes gibt. Die Gesundheitsrisiken von Übergewicht betreffen vor allem Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Belastungen des Bewegungsapparates und Diabetes und zeigen einen deutlichen Zusammenhang mit dem Fettverteilungsmuster (bei vermehrter Fettansammlung um den Bauch besteht im allgemeinen ein größeres Erkrankungsrisiko).

Wie wird jemand übergewichtig?

Die verbreitete Annahme, daß Übergewichtige einfach zuviel essen, willensschwach sind und zuwenig Energie verbrauchen, ist nach den Forschungsergebnissen in diesem Bereich nicht zu halten. Häufig besteht eine genetische Veranlagung zu einem etwas höheren Körpergewicht bzw. eine vermehrte Anzahl von Fettzellen durch Überfütterung in der Kindheit (Stoffwechselstörungen und andere somatische Ursachen sind hier ausgeklammert und müssen vom Arzt abgeklärt werden); das Streben nach einer schlanken Figur (durch das herrschende schlanke Schönheitsideal gefördert) führt meist zu Reduktionsdiäten; diese haben eine Reduktion des Energieverbrauches und eine Veränderung der Stoffwechselvorgänge sowie ein verändertes Eßverhalten zur Folge; nach Beendigung der Diät steigt das Gewicht deshalb rascher wieder an und zwar oft über das Gewicht, das der Betreffende vor der Diät hatte. Der Körper versucht sozusagen durch besseres Ausnützen der Nahrung und Sparmaßnahmen des Körpers den Diäten entgegenzuwirken.

Was kann man tun?

Für eine Gewichtsreduktion bis zu 25 kg erwies sich eine verbaltenstherapeutische Behandlung mit einer dauerhaften Umstellung der Emährungsgewohnheiten am sinnvollsten; sie ist auf alle Fälle Diäten, die auf eine schnelle Gewichtsreduktion abzielen, überlegen. Die Durchführung erfolgt je nach Gegebenheiten in Einzel- oder Gruppentherapie und beruht auf der aktiven Mitarbeit des Patienten (z. B. durch Führen eines Ernährungs- und Aktivitätentagebuchs). Zu Beginn einer Veränderung steht die genaue Analyse des Ernährungsverhaltens und seiner Bedingungen sowie die Bestimmung eines realistischen Therapiezieles.

Wichtige Bestandteile eines Programms zur Gewichtsreduktion und Gewichtskontrolle sind:

  • Ernährungsinformationen
  • Umstellung des Eß-, Ernährungsverhaltens (Einschränkung von Fett und Zucker, mehr Ballaststoffe, genußvolles, konzentriertes Essen etc.)
  • Steigerung der körperlichen Aktivität
  • begleitende Maßnahmen (Veränderung ungünstiger Einstellungen, Umgang mit Streß etc.)
  • Rückfallprophylaxe.

Ist eine drastische und rasche Gewichtsreduktion indiziert, muß dies wegen der damit verbundenen gesundheitlichen Risiken auf jeden Fall unter ärztlicher Kontrolle erfolgen. Alle einseitigen und niedrigkalorischen Diäten können zwar zu einer raschen anfänglichen Gewichtsreduktion führen, bergen aber die große Gefahr einer nachfolgenden Gewichtszunahme in sich, die das ursprüngliche Gewicht überschreitet, was zu einem lebenslangen Kampf um das ersehnte Wunschgewicht führen kann. Ziel jeder sinnvollen Gewichtskontrolle muß es sein, eine dauerhafte Umstellung der Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten zu erreichen sowie ein sogenanntes persönliches „Wohlfühlgewicht“ oder „individuelles Normalgewicht“ herauszufinden und dieses zu akzeptieren lernen. Bei vernünftiger, dem biologischen Bedarf angepaßter Ernährung und ausreichender Bewegung wird das Gewicht ohne größere Anstrengungen (d. h. diverse Diätversuche) in diesem Bereich gehalten werden.

Weiterführende Literatur

  • LeBow, M. D. (1991). Adipositas. Psychotherapie und Nachbehandlung von Ubergewicht bei Erwachsenen. Bern: Huber.
  • Orbach, 5. (1984). Anti-Diät-Buch II. München: Frauenoffensive.

Bulimie und Anorexie

Was ist Bulimie?

Eine beachtliche Zahl von Frauen und sehr wenige Männer leiden unter wiederholten Eßanfällen, wobei sie innerhalb kurzer Zeit große Nahrungsmengen verschlingen. Um einer gefürchteten Gewichtszunahme entgegenzuwirken, erbrechen die Frauen anschließend, nehmen Abführmittel und legen Zeiten strengen Fastens ein. Genau das führt jedoch zu neuerlichen Heißhungerattacken, die die Frauen kaum kontrollieren können. Der Konflikt zwischen dem angestrebten Schlankheitsideal und dem gierigen Verlangen nach Essen ist für die Frauen extrem belastend; eine übermäßige Bewertung des eigenen Körpergewichtes, die alles andere zurückdrängende gedankliche Fixierung auf Essen bzw. Angst vor Gewichtszunahme und das Gefühl der Hoffnungslosigkeit und des Versagens sind Begleiterscheinungen dieser Störung.

Das anfänglich als Lösung angesehene Erbrechen („Jetzt kann ich essen, ohne zuzunehmen“) wird zum Bumerang und macht es den Frauen sehr schwer, aus dem Teufelskreis zu entkommen. Depressionen verschlimmern den Zustand. Viele Frauen können ihre bulimische Eßstörung lange Zeit geheimhalten; sie leiden aber zunehmend nicht nur unter psychischen, beruflichen und sozialen Problemen (Isolation), auch finanzielle und gesundheitliche Schwierigkeiten führen in arge Bedrängnis.

Wie kommt es zur Bulimie?

Am Beginn einer bulimischen Erkrankung steht oft der Versuch, mittels Nahrungsmitteleinschränkung das Gewicht zu senken; schwierige Lebenssituationen, Unsicherheiten, mangelndes Selbstwertgefühl oder Schwierigkeiten im Umgang mit Problemen, Gefühlen und Streß sollen durch Flucht ins Essen und gleichzeitigem Anstreben einer „Traumfigur“ bewältigt werden. Die wiederholten strengen Nahrungsrestriktionen führen automatisch zu Heißhungeranfällen; wird zusätzlich das Brechen „entdeckt“, kann man diesem Kreislauf aus Hungern — Fressen — Brechen schwer entkommen. Die massiven Schuldgefühle, die Einengung durch das Verhalten und die Niedergeschlagenheit lassen kaum mehr Platz für andere Problemlösungen als Essen und Brechen.

Was ist Anorexie?

Magersüchtige, anorektische Mädchen oder Frauen zeichnen sich durch ein besonders niedriges Körpergewicht aus, das mindestens 15% unter dem zu erwartenden Gewicht liegt und nicht auf eine körperliche Erkrankung zurückzuführen ist. Trotz dieses niedrigen Gewichts fühlen sich Magersüchtige oft noch zu dick bzw. wollen ihr Gewicht noch weiter reduzieren. Diese Gewichtsabnahme oder fehlende Zunahme bei jungen Mädchen schaffen anorektische Patientinnen (auch bei diesem Störungsbild gibt es nur wenige davon betroffene Männer), indem sie extrem wenig essen, Abführmittel verwenden und exzessiv Sport betreiben. Die Angst vor einer Gewichtszunahme ist übermächtig, unangenehme Konsequenzen des niedrigen Gewichtes werden negiert. Typischerweise bleibt die Menstruation bei diesen Mädchen/Frauen aus. Für andere kochen Magersüchtige sehr gern, sie sammeln auch mit Vorliebe Kochrezepte; ihr Verhalten insbesondere in Zusammenhang mit Ernährung wirkt oft bizarr und für Außenstehende unverständlich. Auf ihre Magersucht angesprochen reagieren die meisten sehr ablehnend und aggressiv.

Wie kommt es zur Anorexie?

Meist sind es sehr „brave“, angepaßte und intelligente Mädchen, die eine Anorexie entwickeln. Der einzige Weg, sich gegen oft dominante oder überfürsorgliche Eltern aufzulehnen, scheint für diese Mädchen das Nichtessen zu sein. Dadurch können sie eigene Stärke und eigenen Willen beweisen. Oft sind es auch Mädchen, die im Wettstreit des Diäthaltens in der Schule als Siegerinnen hervorgehen, d. h. sie halten durch, u. U. bis zum bitteren Ende (die Todesrate durch Verhungern liegt tatsächlich relativ hoch); oder solche, die aus verschiedenen Gründen ihr „Frauendasein“ ablehnen. Aufgrund des extrem niedrigen Gewichts fallen anorektische Mädchen/Frauen zwar eher auf als bulimische, sie sind aber meist ablehnend und ängstlich, was eine Veränderung anlangt.

Welche körperlichen Folgen haben Bulimie und Anorexie?

Aufgrund diverser Mangelerscheinungen durch die unzureichende Ernährung kommt es zu einer Reihe von körperlichen Symptomen wie Herz-Kreislauf-Problemen, Störungen des Hormonhaushaltes, Veränderung der Nieren- und Blasenfunktion etc. Zusammen mit dem Gebrauch von Abführmitteln und evtl. Erbrechen werden Vitaminmangelerscheinungen und Störungen des Elektrolythaushaltes beobachtet; außerdem treten Probleme des gesamten Verdauungstraktes (Zähne, Speiseröhre, Magen und Darm, Bauchspeicheldrüse), Kopfschmerzen, Schwindel, depressive Verstimmungen und Heißhungeranfälle auf.

Was kann man tun?

Stark untergewichtige Patientinnen müssen normalerweise im Rahmen eines stationären Krankenhausaufenthaltes an Gewicht zunehmen, da sonst eine Psychotherapie nicht durchgeführt werden kann. Alle eßgestörten Patientinnen müssen einer medizinischen Abklärung unterzogen werden, um bereits entstandene Folgeschäden der Eßproblematik festzustellen und gegebenenfalls medizinisch zu behandeln. Medikamentöse Therapie scheint zur Zeit nur bei einem Teil bulimischer Patienten und nach genauer Indikationsstellung sinnvoll. Die verhaltenstherapeutische Behandlung von eßgestörten Patienten muß man auf zwei Ebenen ansetzen: Dem Ernährungsverhalten selbst und dem primär psychischen Bereich (Selbstsicherheit, Durchsetzung in der Familie, Umgang mit Streß, Körperwahrnehmung usw.).

Wichtig ist dabei immer eine genaue Analyse der Randbedingungen des Eßproblems, die Vermittlung von Informationen über Ernährung, die sogenannte Ernährungserziehung (5 Mahlzeiten, Essen nach Hunger und Sättigung, Essen mit Genuß, Einbau bisher „verbotener“ Nahrungsmittel in den Speiseplan u. a. m.), Problemlösetraining, der Aufbau von Alternativverhalten, die Veränderung depressiver Gedanken, Vermittlung sozialer Fähigkeiten und natürlich die Stabilisierung eines Therapieerfolgs.

Die Therapie kann in Gruppen oder in Einzelsitzungen durchgeführt werden, häufig ist es auch notwendig, Angehörige miteinzubeziehen. Je nach Gegebenheiten wird eine Therapie in darauf spezialisierten psychosomatischen Kliniken oder ambulant durchgeführt.

Weiterführende Literatur

  • Bauer, G. G., Anderson, W. P. & Hyatt, R. W. (1992). Bulimie. Eine Behandlungsanleitung für Therapeuten und Betroffene. Weinheim: Psychologie Verlags Union.
  • Gerlinghoff, M., Backmund, H. & Mai, N. (1988). Magersucht. Auseinandersetzung mit einer Krankheit. München: Psychologie Verlags Union.
  • Karren, U. (1986). Die Psychologie der Magersucht. Erklärung und Behandlung von Anorexia nervosa. Bern: Verlag Hans Huber.

Was ist Verhaltenstherapie?

Verhaltenstherapie ist ein spezielles Behandlungsverfahren, das sich auf bewährte Forschungsbefunde stützt; Verhaltenstherapie bildet für Patienten eine Hilfestellung, um spezielle Veränderungen in Gang zu setzen und entsprechende Ziele zu erreichen. Solche Ziele betreffen unter anderem:

  • Merkmale des Verhaltens, z.B. aktives Sozialverhalten; Reduktion von Alkohol- oder Zigarettenkonsum.
  • Art der Gefühle, z.B. Hilfestellungen für eine Person, sich weniger ängstlich oder weniger depressiv zu fühlen.
  • Veränderung von Denkmustern, z.B. lernen Probleme zu lösen und zuversichtlichere Gedanken zu entwickeln.
  • Art des Umgangs mit körperlichen Beschwerden, z.B. Veränderung des Schmerzerlebens oder des Umgangs mit ärztlichen Verschreibungen.
  • Eine Art der Bewältigung, z.B. Hilfestellungen für behinderte Personen oder des Zurechtkommens im Arbeitsbereich.

Verhaltenstherapie und kognitive Therapie beziehen sich in erster Linie auf das Hier und Jetzt, d.h. auf die gegenwärtige Situation und ihre Bedingungen (und nicht so sehr auf die Vergangenheit des Patienten). Wichtige Ansatzpunkte sind die konkreten Verhaltensmuster und Sichtweisen einer Person. Verhaltenstherapeuten arbeiten mit Einzelpersonen, mit Eltern, Kindern, Paaren, Familien und Gruppen.

Zentrale Ziele der Verhaltenstherapie sind die Hilfe bei der Veränderung hinderlicher Denk- und Verhaltensmuster sowie eine Unterstützung beim Erlernen zielführender Strategien; damit sollen Patienten generell mehr Kontrolle über ihr Leben bekommen.

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